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Diskussion zur Petition 114759

Wahlrecht

Parallele Beratung aller im Bundestag eingebrachten Gesetzentwürfe durch geloste Bürgerinnen und Bürger vom 16.08.2020

Diskussionszweig: Spannendes Instrument, aber auch mit spannendem Preis

Nutzer3294430 | 21.09.2020 - 10:53

Spannendes Instrument, aber auch mit spannendem Preis

Anzahl der Antworten: 12

Das Bürgerinnen und Bürger ihre Belange eigenverantwortlich diskutieren, planen und entscheiden ist bewährte Praxis, denn hier wird subsidiär Entscheidungskomplexität und Entscheidungsverantwortung erlebbar. Immer sinnvoll ist, die Betroffenen von Veränderungsprozessen in die Gestaltung dieser Prozesse aktiv einzubinden und die Meinung, Erfahrungen und Erwartungen der Betroffenen abzufragen und zu berücksichtigen.

Allerdings ist die Realisierung dieser Petition an die Lösung mehrerer Herausforderungen gebunden:

1) Kosten: ca. 50 Millionen Euro pro Jahr
Schließlich sind Lohnersatzleistungen, Anreise, Hotelunterkunft, Verpflegung von 24.000 Personen zu finanzieren. Hinzu kommen die Kosten für die Anmietung entsprechender Säle und Arbeitsgruppenräume, dazu dann noch die Honorare von Moderatorinnen und Moderatoren, der wissenschaftlichen Begleitung, der Veranstaltungstechnik und der Moderationsmaterialien. Nicht zu vergessen die paar Dutzend neuer Stellen, welche zu schaffen sind, um die 120 Veranstaltungen pro Jahr zu organisieren und die Anreise und Unterbringung der Teilnehmenden zu regeln.
Spannend, dass dieses "Detail" nicht in der ansonsten recht ausführlich gehaltenen Petitionsbegründung auftaucht. Jedenfalls: die Hotelbranche wird sich über diese Petition freuen.

2) Freiwillige finden
Pro Legislaturperiode sind über 100.000 Personen (denn tatsächlich werden regelmäßig mehr als 480 Gesetze vor Legislatur verabschiedet) zu finden, welche an den "Planungszellen" aktiv wie motiviert teilnehmen. Ergo wird ein Reservoir von Millionen Bürgerinnen und Bürgern benötigt, welche sich dem Losverfahren freiwillig stellen. Schließlich soll sich ja nicht eine Gruppe von Dauerteilnehmenden entwickeln. Sicherzustellen ist auch, dass die Einladung zur Planungszelle nicht als willkommene Urlaubstour auf Staatskosten missbraucht wird. Auch zu gewährleisten ist, wie die Teilnehmenden dem Druck öffentlichen Interesses, gerade bei kontrovers behandelten Themen, standhalten bzw. vor dem vielfältigen Medienecho geschützt werden können.

3) Fragwürdiges Mandat
Nur ein Teil der Gesetze, welche der Bundestag beschließt, hat direkte Auswirkungen auf das Leben der Bürgerinnen und Bürger. Bürgergutachten sind, wenn überhaupt, somit nur für einen Teil der Arbeit des Deutschen Bundestags sinnvoll. Zudem kann durch die von der Petition verlangte obligatorische öffentliche Präsentation der Ergebnisse des Bürgergutachtens in der Bevölkerung der Eindruck eines "Nebenparlamentes" entstehen: "die wahren Vertreter des Volkes gegen die etablierte Klasse der Volksvertreter". Was passiert, wenn der Bundestag die Meinung der 200 Ausgelosten nicht berücksichtigt oder gar zurückweist? Und wie kann die einmalige Aktion "Bürgergutachten" der Dynamik eines Gesetzgebungsverfahrens entsprechen? Bzw.: ist das Instrument "Bürgergutachten" flexibel genug, um auch in dynamischen Gemengelagen, welche rasches Handeln erfordern, wie im Frühjahr anlässlich der Entscheidungen zur Pandemieeindämmung, Verwendung zu finden (die Petition fordert ja ein Bürgergutachten zu allen Gesetzen). Und: kann einer populistischen Vereinnahmung der Ergebnisses der Bürgergutachtens tatsächlich vorgebeugt werden?

4) Herausforderung
Die Arbeit in den Fachausschüssen und Expertengremien des Deutschen Bundestags hat sich bewährt. Mitunter beraten diese über mehrere Wochen bis Monate, bis dass eine Beschlussempfehlung erreicht ist. Hier sollen nun Bürgergutachten innerhalb von wenigen Tagen kreiert werden, und zwar von Menschen, welche bislang im erstrebenswerten Regelfall nur oberflächlich von dem zu behandelnden Thema gehört haben. Eine Überforderung der Teilnehmenden im Thema ist somit ein hohes Risiko. Ob tatsächlich für Anliegen, welche der Deutsche Bundestag behandelt, durch "Bürgerplanungszellen" "belastbare Gutachten" erarbeitet werden können, erscheint sehr fraglich.

5) Notwendige Grundgesetzänderung
Zu prüfen sein wird auch, ob die Realisierung dieses Petitionsbegehrens eine Grundgesetzänderung, Art. 38 ff GG, zur Folge haben wird. Mindestens notwendig wird eine Änderung der Geschäftsordnung des Bundestags sein. Denn schließlich wird mit nicht ganz unerheblichem Aufwand ein neues Gremium geschaffen.

6) Sensible Rolle: Moderatorinnen und Moderatoren
Wenn 200 Menschen miteinander diskutieren und fristgebunden an einem komplexen Thema arbeiten sollen, dann ist eine Moderation sowie eine "Geschäfts- und Redeordnung" unabdingbar. Der Moderation fällt somit eine zentrale wie sensible Rolle zu, welche tunlichst parteineutral wahrzunehmen ist.

Fazit: die Umsetzung der Petition bedeutet eine Schwächung des Parlamentarismus und eine Schwächung gerade der etablierten, demokratischen Parteien im Land, bei nicht unerheblichen Kosten und weiteren Risiken. Die durch dieses Instrument bzw. die umfangreiche aktive Einbindung zahlreicher Bürgerinnen und Bürgern vermutete Stärkung der Demokratie und eines "enorm positiven Einflusses auf die Gesellschaft" ist noch nachzuweisen. Ob das postulierte "Zusammenwachsen der Gesellschaft" notwendig ist, ist ebenfalls fraglich. Ein plebiszitäres Beteiligungsinstrument, welches für bestimmte Fragestellungen auf lokaler bzw. kommunaler Ebene, im direkten Lebensumfeld, durchaus seine Eignung bewiesen hat, auch für Entscheidungen nationaler Bedeutung zu verwenden, erscheint äußerst fraglich, ein tatsächlicher Mehrwert ist bislang nicht erkennbar.
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