Text der Petition
Wir bitten den Deutschen Bundestag, sich für eine der Krankheitsschwere von ME/CFS angemessene Versorgung einzusetzen, insbesondere durch Ergänzung von § 116b SGB V sowie durch Aufklärung. Ferner bitten wir, durch umfassende Investitionen in die biomedizinische Erforschung von ME/CFS den Kranken Hoffnung zu geben. Schließlich bitten wir das Parlament, den Betroffenen dauerhaft beizustehen, etwa durch Benennung einer/s Beauftragten oder durch Schaffung einer interfraktionellen Arbeitsgruppe.
Begründung
ME/CFS ist seit 1969 von der WHO als Erkrankung des Nervensystems klassifiziert (ICD-10: G93.3). Die Anzahl der im Inland an ME/CFS (lang: „Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom“) Erkrankten wird auf rund 250.000 geschätzt, womit die Krankheit etwa dreimal häufiger als HIV/AIDS ist. Dabei trifft ME/CFS besonders häufig junge Menschen. ME/CFS gilt mit rund 40.000 minderjährigen Betroffenen daher nicht nur als häufigste Ursache langer Schulfehlzeiten; das relativ frühe Erkrankungsalter trägt auch zu den enormen sozioökonomischen Kosten von ME/CFS bei, die für die EU auf jährlich 40 Mrd. EUR berechnet werden.
ME/CFS ist eine vernachlässigte Erkrankung, die trotz Häufigkeit und Schwere z. B. an keiner deutschen Universität Bestandteil des Curriculums und dementsprechend auch ärztlicherseits kaum bekannt ist. Studien aus den USA zufolge bleibt ME/CFS dort – trotz stärkerer Aufmerksamkeit für das Krankheitsbild – in mehr als 90 % der Fälle undiagnostiziert. Ein wohl noch größeres Problem besteht aber darin, dass die Erkrankung selbst bei richtiger Diagnose hinsichtlich ihrer Schwere, Komplexität und dem Maß der Beeinträchtigungen meist vollständig verkannt wird. Das breite Symptombild von ME/CFS führt dazu, dass zwei Drittel der Betroffenen dauerhaft arbeitsunfähig sind, ein Viertel sogar Haus oder Bett nicht mehr verlassen können und die gesundheitsbedingte Lebensqualität der Erkrankten liegt nach Studien im Durchschnitt noch unter der weitaus bekannterer Krankheitsbilder (wie z. B. Lungenkrebs, Schlaganfall, MS). Dennoch werden oftmals die von ME/CFS ausgelösten Beschwerden fälschlich als mild, imaginär oder psychosomatischer und überwindbarer Natur eingeordnet. Als Folge erhalten die Kranken weder medizinisch noch sozialrechtlich angemessene Versorgung. Zudem werden sie oft noch immer schädlichen Therapieversuchen ausgesetzt.
Nicht zuletzt führte die Vernachlässigung von ME/CFS dazu, dass bis heute keine wirksamen Behandlungsansätze existieren. Da zugleich Spontanremissionen – wie bei anderen schweren Erkrankungen – selten sind, bedeutet dies für die Betroffenen, dass sie von jahrzehntelanger Krankheit bis zu ihrem Tod ausgehen müssen. Diese Perspektivlosigkeit und das sekundäre Leid sind dabei auch Gründe für eine hohe Suizidrate.
Obwohl der Pathomechanismus von ME/CFS ungeklärt ist, kann für den Großteil der Fälle ein Kausalzusammenhang zu Virusinfektionen hergestellt werden. Noch gesteigerte Bedeutung erfährt ME/CFS aktuell daher aufgrund der Corona-Pandemie, denn weltweit gehen Wissenschaftler davon aus, dass ME/CFS auch eine der Langzeitfolgen von Covid-19 ist, weswegen es alleine in Deutschland bald 100.000 zusätzliche Fälle geben könnte.
Uns ist bewusst, dass ein so komplexes Problem wie ME/CFS nicht durch Einzelmaßnahmen gelöst werden kann. Deswegen ist es uns auch ein besonderes Anliegen, dass sich der Deutsche Bundestag langfristig unserer hoffnungslosen Situation annimmt und dieses Engagement institutionalisiert
Die Thematik ist komplex und erfordert die enge Einbindung betroffener Patienten. ME/CFS Patienten haben, wie auch andere Patienten mit untererforschten Krankheitsbildern, epistemische Ungerechtigkeit erfahren. Entscheidungen, auch des Gesetzgebers und aus Gesetzen resultierender Praxis, werden vielerorts anhand falscher Annahmen über das Krankheitsbild getroffen - Annahmen, die nicht selten auf dem Fehlschluss "Argumentum ad ignorantiam" (lateinisch für „Argument, das an das Nichtwissen appelliert“) beruhen - eine direkte Folge der Untererforschung und mangelnden Aufklärung über das Krankheitsbild.
Um sicherzustellen, dass sich diese epistemische Ungerechtigkeit nicht wiederholt, ist eine enge Zusammenarbeit mit Betroffenen notwendig.
Eine angemessene Versorgung von ME/CFS Patienten berührt mehrere Punkte, die die Aufmerksamkeit des Gesetzgebers erfordern:
Einerseits, wie im anderen Diskussionszweig dargelegt, medizinische Gutachtenverfahren und den Zugang zu Erwerbsminderungsrente.
Andererseits werden die Zugangskriterien zu Leistungen der Pflegeversicherung Patienten mit ME/CFS nicht gerecht, da Symptome oft wechselhaft auftreten und z.B. Einkaufen, Nahrungszubereitung oder Haushaltstätigkeiten oft mit einer markanten Verschlechterung des Gesundheitszustands einhergehen und somit oft nicht zuverlässig oder dauerhaft leistbar sind. Diese Tätigkeiten werden jedoch im Pflegegutachten nicht erfasst.
Zudem sind Betroffene oft so schwer krank, dass ambulante medizinische Versorgung für sie nicht zugänglich ist. Hier stellt sich die Frage nach häuslicher medizinischer Versorgung, von der Diagnosestellung bis hin zur Behandlung und Versorgung schwerstkranker Patienten, die ans Bett gebunden sind und weder Licht noch Geräusche oder Berührung vertragen.
Und nicht zuletzt stellt sich die Frage nach der Versorgung junger körperlich schwerkranker Patienten, die nicht mehr in der eigenen Wohnung leben können und wollen ("und", nicht "oder"). Ein Altenpflegeheim stellt für diese Personengruppe keine angemessene Versorgung dar.
Nutzer2175808 | 09.11.2021 - 17:35
Schließe mich diesem Post und der Forderung der Petition nach einer interfraktionellen Arbeitsgruppe vollumfänglich an.
Es geht um Jahrzehnte, die aufgeholt werden müssen. Das Ausmaß der Versorgungskrise kann in der Petition und hier im Diskussionsforum nur gestreift werden. Oder um es mit den Worten der Petent:innen zu sagen: "Uns ist bewusst, dass ein so komplexes Problem wie ME/CFS nicht durch Einzelmaßnahmen gelöst werden kann. Deswegen ist es uns auch ein besonderes Anliegen, dass sich der Deutsche Bundestag langfristig unserer hoffnungslosen Situation annimmt und dieses Engagement institutionalisiert."
Daher halte auch ich die Ernennung einer Arbeitsgruppe für grundlegend wichtig.